Schlagwort: Action

  • Vergangenheit tötet

    Sandra Rehschuh - Vergangenheit tötet
    Sandra Rehschuh – Vergangenheit tötet

    Kommissar Arnold Borge kann den Sommer nicht genießen. Während sich die Todestage seiner Frau und seiner Tochter nähern, nervt ihn sein Partner Christian Griso mit seinen Frauengeschichten. Als in der sonst so beschaulichen Stadt Weimar ein Mord geschieht, müssen Borge und Griso einen klaren Kopf behalten. Selbstmord oder Mord? Doch woher kommt dieser seltsame Brief, der bei der Leiche gefunden wird? Ein Brief, der von Johann Gottfried Herder stammen soll, einem Dichter, der vor über 200 Jahren starb? Die Ermittlungen führen Arnold Borge und Christian Griso in die Bauhausuniversität. Tatkräftige Unterstützung erfahren sie dabei durch die Gerichtsmedizinerin Alina Votice, die längst ein Auge auf Arnold geworfen hat.
    Der Fall erweist sich als kompliziert, denn ein weiterer Mord geschieht. Jagen die Ermittler einem Geist hinterher oder steckt nur ein raffiniertes Versteckspiel hinter den Morden?

    Weimar, mit seinen weltbekannten Sehenswürdigkeiten, bietet eine facettenreiche Kulisse für einen spannenden Mordfall.

    Leseprobe

    Kapitel 1 – Gärtner, Frauen und die Sache mit den Eseln

     

    Tick – Tack – Tick – Tack.

    Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte Mitternacht. Es gab niemanden, der ihm auf seiner Fahrt entgegen kam; niemand, der ihn an seinem Vorhaben hindern konnte. Er bog von der Hauptstraße auf einen Feldweg ein, ohne den Blinker zu betätigen.

    Ja, setzt das mit auf meine Rechnung, dachte er und umklammerte das Lenkrad so fest er es vermochte. Darauf kommt es nicht mehr an.

    Er blickte starr auf den Weg, der gerade so breit war, dass er ihn mit dem Transporter befahren konnte. Was links und rechts von diesem lag, nahm er nicht länger wahr. Tunnelblick, glaubte er, nannten das die gewöhnlichen Menschen. Ein heißeres Lachen drang aus seiner Kehle. Gewöhnliche Menschen. Das waren sie alle und er verabscheute sie zu tiefst.

    Er konzentrierte sich wieder auf die Fahrt und verstummte. Morgen würde niemand auch nur ahnen, dass ein Fahrzeug hier entlanggerollt war. Die Besucher des Belvedere würden die Spuren zertrampelt haben, noch bevor irgendwer ihre Bedeutung erkannte.

    Ein Reifen erwischte einen Stein, brachte das Gefährt zum einen Moment aus der Spur und verschwand dann unbeachtet in der Dunkelheit. Irgendwo neben ihm existierte ein Abgrund, das wusste er. Er kannte diesen Park in und auswendig. Es war ein mit Sträuchern bepflanzter, steil abfallender Hügel. Eine Sekunde lang stockte ihm der Atem, bei dem Gedanken, die Kontrolle über den Transporter zu verlieren und da hinunterzustürzen. Doch dann hob er die Oberlippe ein Stück, gleichbedeutend mit einem Grinsen, und konzentrierte sich auf den Pfad. Ihm passierte nichts. Niemals. Er musste nur auf den Weg Acht geben, den normalerweise kein Fahrzeug befuhr. Höchstens der Gärtner mit seiner Schubkarre. Ob dieser am morgigen Tag seine Arbeit weiterhin liebte? Wahrscheinlich nicht. In der Regel fiel der erste Verdacht, spätestens seit Edgar Wallace, stets auf den Gärtner. Das Leben dieses armen Mannes war jetzt schon ruiniert. Dabei ging die Sonne noch nicht einmal auf. Aber was scherte ihn das? Ihn behandelte man auch nicht fair und nie beklagte er sich darüber. Wenn man etwas an der Realität ändern wollte, musste man es selbst in die Hand nehmen.

     

    Taschenbuch: 183 Seiten
    Verlag: SoTo Media
    ISBN-13: 978-1717918956

    auch als Ebook in den Formaten: Kindl Edition, PDF, ePub und Mobipocket erhältlich

     

    Wie um seine Gedanken zu bekräftigen, hörte er von der Ladefläche ein Poltern. Gefolgt von Stille. Nach einigen Sekunden wiederholte es sich – lauter.

    Die Kleine wachte endlich auf. Lächelnd blickte er durch die Windschutzscheibe. Perfektes Timing! Langsam ging er vom Gas.

    Den Brunnen am Ende des Weges konnte er trotz der Finsternis gut erkennen. Oft war er an diesem Ort gewesen und hatte das Wasser beobachtet, das aus einem Felsen herausströmte. Am Boden sammelte es sich in einem Becken, gerade so groß, dass er sich hätte hineinsetzen können.

    Er schüttelte den Kopf und verschwendete nicht länger seine Gedanken daran. Er musste weiter, durfte keine Zeit verlieren.

    Hinter dem Brunnen führte ein Weg entlang. An dessen Ende befand sich eine künstliche Ruine, die »Große Grotte« genannt. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er kam seinem Ziel näher.

    Als er vor wenigen Wochen – Herrgott, waren es ernsthaft nur ein paar Wochen? – das erste Mal den Schlosspark von Belvedere in Weimar besuchte, war es dieser Anblick gewesen, der ihm den Atem raubte. Konnte ein eingestürztes Gebäude tatsächlich solch eine magische Anziehungskraft auf ihn ausüben?

    Hastig nickte er.

    Magie, ja, die herrschte an diesem Ort, an dem die Vergangenheit lebendig schien. Stunden, sogar Jahre schrumpften zu winzigen Augenblicken zusammen und er fühlte sich wieder jung; sah sich selbst als Kleinkind.

    Er ließ den Wagen ausrollen und verharrte mit der Hand auf dem Zündschlüssel. Ein Zurück gab es seit Langem nicht mehr. Zu weit war er gegangen, zu viel hatte er riskiert, um an diesen Punkt zu gelangen. Seine Erlösung schien zum ersten Mal greifbar nahe.

    Bald konnte er die Zeit zurückdrehen, alles ungeschehen machen und ein neues Leben beginnen.

    Sein Herz hämmerte wie bei einem der wenigen Marathonläufe, an denen er teilgenommen hatte. Früher. Doch das lag hinter ihm, nur noch die staubige Erinnerung daran blieb. Er würde sie vergessen. Irgendwann.

     

     

    Er stellte den Motor ab.

    Das Mädchen musste zur Ruine hinauf laufen. Unmöglich konnte er den Weg dahin befahren. Es war ein heiliger Ort, an dem banale Dinge wie ein Auto keine Existenzberechtigung besaßen. Das Risiko, den Zauber dieses Platzes zu zerstören, erschien ihm zu groß.

    Er stieg aus, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und öffnete die Schiebetüre des Transporters auf der Beifahrerseite.

    Schreckgeweitete Augen starrten aus der Dunkelheit zu ihm empor. Er konnte die Farbe nicht erkennen, aber letztendlich spielte sie auch keine Rolle. Ein nebensächliches Detail.

    Dennoch wusste er, dass er diesen Anblick höchstwahrscheinlich seinen Lebtag nicht mehr vergaß.

    Lächelnd trat er einen Schritt näher. Er verspürte weder Angst, noch Trauer oder gar Mitleid. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte ihn mit eisernen Klauen an diesen Ort getrieben und schütze ihn vor diesen unbedeutenden Empfindungen.

    Tief atmete er die kühle Nachtluft ein, die für die kommenden Stunden einen Regenschauer versprach.

    Die Kleine kroch zurück, tollpatschig, mit ihren gefesselten Händen, und stoppte erst, als sie die Trennwand zwischen Ladefläche und Fahrerkabine erreichte.

    Mit dem Zeigefinger winkte er sie heran.

    Sie reagierte nicht.

    Er biss sich auf die Lippen, unterdrückte einen Fluch und beugte sich zu ihr herab. An einem Fuß zog er sie durch das Fahrzeug. Wie von Sinnen warf sie den Kopf umher, versuchte zu schreien, doch der Schal vor ihrem Mund erstickte jeden Klang. Er packte sie an den Haaren, zerrte sie auf die Beine. Im nächsten Moment sackte sie in seinen Armen zusammen. Lautlos fluchend ergab er sich seinem Schicksal. Dann musste er sie halt hinter sich herschleifen. Ein notwendiges Übel. Seine Pläne blieben davon unberührt.

    Im nächsten Moment bäumte sie sich erneut auf, schlug um sich, versuchte, ihn zu treten. Einmal. Zweimal. Sie erwischte ihn nicht und gab den Widerstand so abrupt auf, wie sie ihn begonnen hatte.

    Ihr Wille zu leben ist nicht gerade groß, stellte er überrascht fest und zerrte sie weiter.

    Keuchend verlangsamte er den Schritt. Er wünschte sich, sie würde ihm ein wenig entgegen kommen, wenigstens ein paar Schritte allein gehen, denn sie war verdammt schwer. Doch letzten Endes war es bedeutungslos. Frauen waren dumme Esel, die nur arbeiteten, wenn sie sich eine Belohnung davon versprachen. Der Fluch dieses Zeitalters. Warum konnten sie nicht wie früher sein? Zuhause am Herd bleiben, ihre Männer und Kinder versorgen und gehorchen? Diese verfluchte Emanzipation hatte alles zerstört.

    Egal. Sein Kontakt zu dieser Spezies Mensch war kaum erwähnenswert. Frauen strengten ihn an – in sämtlichen Lebenslagen. Distanz war die einzige Art von Beziehung, die er mit ihnen einging. Weshalb sollte es ihn also scheren, wenn er dieses eine Mal in den sauren Apfel biss?

    Verflucht! Warum macht sie sich so schwer?

    Schniefend erreichte er den Eingang zur Großen Grotte. Jeder Atemzug brannte in seinem Brustkorb wie flüssiges Feuer. Doch der Anblick der Ruine ließ ihn die Schmerzen vergessen. Durch den Bauzaun starrte er einen Moment lang in ihr Inneres. Sein Traum, einmal darin zu stehen oder gar irgendwann in ihr zu leben, rückte in weite Ferne.

    Die Decke war eingebrochen und der Zugang lebensgefährlich. Obwohl er sich nur vor wenigen Dingen fürchtete, schaffte es die Vorstellung, bei lebendigem Leib begraben zu werden, ihm Angst einzujagen.

    Er konnte warten. Warten, dass irgendwer das wunderbare Gemäuer instand setzte und ihm somit eine neue Heimat schuf.

    Das Jammern der Kleinen riss ihn aus seinen Gedanken.

    Er wollte nicht, dass sie Tränen vergoss. Sie sollte sich dieses Meisterstück der Baukunst anschauen, ehrfürchtig den Atem anhalten und den Anblick genießen.

    Den Atem anhalten – oh ja. Er biss sich auf die Lippen, unterdrückte ein Kichern, und wandte sich von ihr ab.

    Er durfte nicht den Fehler machen, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Weder durch ein unkontrolliertes Lachen noch durch einen Dialog. Jede dieser Abweichungen von seinem Plan brachte ihn in Gefahr. Seine Aufgabe musste er jetzt erledigen. In dieser Nacht, bevor er den Mut verlor.

    Fest packte er sie an der Schulter, zerrte sie an der Ruine vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Weg wurde ab hier steiler. Eine unangenehme Nebensächlichkeit, die ihn aber kaum störte. Konzentriert sah er zu Boden, setzte einen Schritt nach dem anderen, spürte kaum noch das Gewicht dieser jungen Frau, die seine Fahrkarte in die Freiheit bedeutete.

    Eine kühle Nachtbrise umgab ihn, ließ ihn einen Moment innehalten und aufsehen. Vor sich erkannte er sein endgültiges Ziel. Die Endstation, wenn man es so nennen wollte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, übertönte das Keuchen seines Opfers.

    Vor ihm erhob sich die Aussichtsplattform der Ruine. Einst stand die Elite der Poeten auf ihr; sie ließen ihre Blicke in das Tal schweifen. Dass diese Plattform das Dach seiner geliebten Grotte darstellte, war nur das Tüpfelchen auf dem berühmten ›I‹.

    Heutzutage hatte man sie abgesperrt. Zu groß schien die Gefahr, dass das Bauwerk darunter einstürzte. Dennoch fand er an diesem Ort die absolute Perfektion:

    Die allgegenwärtige Freiheit; der Wunsch, den Wind im Gefieder zu spüren wie ein Habicht. Nur an dieser Stelle kam er seinem Traum so nah. Aufsteigen und davonfliegen. Keine Sorgen, keine Verpflichtungen zu haben. Einfach nur glücklich sein.

    Sekunden verstrichen, in denen er die Aussicht genoss und beinahe vergaß, weswegen er eigentlich gekommen war.

    Das Zerren an seinem Arm riss ihn in die Realität zurück. Brummend blickte er die Studentin an und kontrollierte ihre Handfesseln. Sicher war sicher.

    Erst nachdem er sich überzeugt hatte, dass sie sich unmöglich daraus befreien konnte, ließ er von ihr ab und wandte sich dem Gebüsch neben dem Weg zu.

    Wo ist dieser … Ah, ja!

    Seine Finger glitten über die raue Oberfläche eines Seiles, das er hier versteckt hatte. Beherzt griff er zu, schüttelte die anhaftenden Blätter ab und drehte sich herum.

    Die große Eiche. Das Symbol für die Ewigkeit.

    In voller Pracht streckten die Bäume ihre Zweige über den Park, verdeckten den wolkenverhangenen Himmel, an dem der Mond in dieser Nacht nur selten zu sehen war.

     

     

     

    Zielsicher ging er auf sie zu, schwankte zwischen zwei Stämmen und entschied sich für den Rechten. Diese Eiche war stark, doch niedrig genug, um bequem an ihre unteren Äste zu gelangen. Er warf seinen Strick über einen Ast, den ein großer Mann vielleicht mit seinen Fingerspitzen erreicht hätte. Das Mädchen jedoch würde keine Chance haben, den Boden darunter zu berühren.

    Die Enden des Seils verknotete er, bis eine Schlaufe entstand. Zufrieden trat er zurück, betrachtete sein Werk und nickte anerkennend. Es erfüllte seinen Zweck.

    Die Kleine schien endlich zu begreifen, auf welche Art ihr Schicksal endete. Sie erwachte aus ihrer Starre, schrie nicht, sondern rannte, soweit es ihre Fesselung zuließ, ohne Vorwarnung los. Sie stolperte über den Weg, den sie gekommen waren, und geriet mehr als einmal ins Straucheln. Wie durch ein Wunder schaffte sie es, sich auf den Beinen zu halten.

    Seufzend blickte er ihr nach. Wenn sie den Abhang hinabrutschte, gab das Spuren, die er nicht brauchte. Ausgerissene Grasbüschel, geknickte Zweige oder gar Fußabdrücke. Das musste er verhindern!

    Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, lief er los.

    Die Distanz zwischen ihnen verringerte sich mit jedem Schritt. Ihre Schuhe mit den Trichterabsätzen waren eindeutig nicht für einen Wettlauf geeignet.

    Der Kies knirschte unter ihm und er konnte das süßliche Parfüm der Studentin riechen, das sich mit ihrem Schweiß vermischte. Süß und streng zugleich. Tief sog er den Duft ein und beschleunigte noch einmal.

    Auf Höhe des Transporters bekam er sie endlich zu fassen und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Wie in Zeitlupe sah er ihren Kopf zur Seite fallen, Speichel spritze aus ihrem Mundwinkel, die Augen riss sie weit auf. Sie fiel auf die Knie und blickte winselnd zu ihm auf.

    Warum musste sie ihm solche Probleme bereiten? Er packte nach ihrem Oberarm und zerrte sie brachial hinter sich her, ohne auch nur einen Ton über seine Lippen zu bringen. Der Widerstand brach; Sie folgte ihm ohne weitere Gegenwehr.

    Vor der Eiche, seinem endgültigen Ziel, blieb er stehen. Sie wäre weitergelaufen, hätte er sie nicht am Arm gehalten.

    Er schüttelte den Kopf, führte sie an den Stamm und drückte sie gegen diesen. Die Kleine sah nicht einmal auf.

    Keine zehn Schritte entfernt befand sich ein Holzstück, das wahrscheinlich bei den letzten Baumfällarbeiten liegengeblieben war. Nun diente es für sie als eine natürliche Treppe. Eine Treppe, die in den Himmel, in die Freiheit führte.

    Oh ja, er tat ihr einen Gefallen. Nie wieder würde sie lernen oder sich mit Jungs plagen müssen. Vorbei die Angst um Zensuren, eine gute Ausbildung. Kein Ärger mit ihren zukünftigen Kindern. Sie würde am Ende ihres Lebens nicht alleine und vergessen sterben müssen. Gleich verfiel sie in einen tiefen Schlaf, in dem sie sich ihre Welt zusammenträumen konnte. Eine perfekte Welt. Ja, er machte ihren Traum wahr. Er half ihr, den Weg zu gehen, der ihr zustand. Wie ihre kleine perfekte Welt wohl aussah? Weite Felder und Wiesen, blauer Himmel und Sonnenschein? Ein Strand, an dem sie lag und den Wellen lauschte? Keine Regeln, keine Verpflichtungen. Nur tun, was sie wollte. Ach, zu gern würde er in ihre Fantasie eintauchen wollen. Nur für einen Moment.

    Er rollte das schwere Stück eines abgesägten Stammes heran. Der Gärtner. Er schmunzelte über seinen detektivischen Verstand. Gewiss doch hat er es liegengelassen. Also trug er im Endeffekt eine unstrittige Verantwortung an dem, was jetzt geschehen würde. Spätestens nach Sonnenaufgang ärgerte er sich seines Fehlers wegen schwarz.

    Ein Eichelhäher lärmte im angrenzenden Forst. Flügelschläge waren zu vernehmen, die Laute näherten sich und verklangen in der Finsternis. Die Stille kehrte zurück.

    Er kletterte auf seine provisorische Treppe, blickte zu ihr herab. Sie stand einfach da, rührte sich nicht und ließ den Kopf hängen. Warum sie nicht versuchte zu fliehen, verstand er nicht. Nur ihre Hände waren aneinandergebunden. Sie konnte also laufen. Oder wusste sie, dass sie keine Chance hatte?

    Es war ihm egal. Er zuckte mit den Schultern, zog die Schlaufe auseinander, stieg herab und ging langsam auf sie zu. Noch immer schaute sie nicht auf. Sanft legte er seine Hand auf ihren Unterarm, spürte die Kühle, die von ihr Besitz ergriffen hatte, und führte sie zu dem Holz.

    Ohne ihn anzusehen, stieg sie auf diesen. Selbst als er ihr die Schlinge um den Hals legte, ging ihr Blick an ihm vorbei gen Himmel. Suchte sie sich vielleicht einen Punkt am Firmament, an dem sie als Stern leuchten wollte?

    Bei dieser Idee lief ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Sie würde strahlen. Heller als jeder einzelne andere Stern da oben. Eine romantische Vorstellung, die ihm doch auch ein melancholisch werden ließ. Zu gern hätte er ein letztes Mal den Schrecken in ihren Augen gesehen.

    Er konnte es nicht ändern. Frauen und Esel. Die ganze Zeit musste er daran denken. Dumme, starrköpfige Esel.

    Mit dem Fuß stieß er das Holz an.

    Es rückte keinen Zentimeter vom Platz.

    Fest biss er sich auf die Lippen, unterdrückte den Wunsch zu fluchen. Er kniete nieder, packte mit beiden Händen zu. Der Stamm ähnelte in der Größe einem Eimer; sein Umfang jedoch überbot diesen um Dimensionen. Dennoch hatte er nicht mit dessen Gewicht gerechnet. Ein Fehler! Er hatte nicht alle Eventualitäten einberechnet. Wie konnte er solch einen wichtigen Punkt übersehen? Rasch überlegte er nach Alternativen, verwarf seine Idee wieder, einen Wagenheber zu holen oder einen anderen Baumstamm zu suchen. Alles viel zu kompliziert, zu unsicher. Was, wenn sie doch noch davon lief? Er war zu weit gegangen, um jetzt alles wegen eines dummen Fehlers zu riskieren. Es gab es kein Zurück.

    Mit seiner ganzen Masse warf er sich gegen das Holz. Wieder und wieder. Schweiß rann ihm über die Stirn, sein Atem ging pfeifend. Doch endlich, endlich bewegte sich dieses verfluchte Ding!

    Einen Herzschlag später kippte es zur Seite, setzte sich in Bewegung und rollte den Weg hinab.

    Ein erstickter Schrei drang über die Lippen des Weibes, als es den Boden unter den Füßen verlor. Sie griff nach dem Seil um ihren Hals. Doch sie konnte ihrem Schicksal nicht entkommen.

    Sein Brustkorb hob und senkte sich im raschen Tempo, das Blut rauschte in seinen Ohren. Erschöpft ließ er sich an dem Stamm der Eiche nach unten gleiten, blieb dort sitzen, atmete tief ein. Er fuhr sich durch das Gesicht, ehe sein Blick in Richtung des Mädchens wanderte. Sie kämpfte; zappelte; versuchte zu kreischen, aber nur ein ersticktes Gurgeln war zu vernehmen.

    Es hätte nicht so kommen müssen. Doch die Freiheit war ein wichtiges Gut. Wichtiger noch als das Leben eines unbedeutenden Menschen.

    Ein kurzes, heißeres Lachen drang über seine Lippen und vermischte sich mit dem Krächzen des Eichelhähers.

     

  • Der Ruf des Pharaos

    Der Ruf des Pharaos

    Sandra Rehschuh - Ruf des Pharaos Cover
    Sandra Rehschuh – Ruf des Pharaos

    Albträume werden nicht wahr … oder doch?

    Dunkelheit. Ringsumher. Wände, die keinen Ausweg erkennen lassen.

    Die vierzehnjährige Anna träumt oft von einem finsteren Labyrinth, bis sie erkennt, dass ihre Träume sie in eine andere Realität gezogen haben. Sie findet sich im alten Ägypten wieder, 1335 Jahre vor Christus.

    Anna weiß, sie muss aufwachen, verschwinden, doch sie kann nicht. Eine viel zu starke, unheimliche Macht hält sie gefangen. Ihr Schicksal ist auf rätselhafte Weise mit der Vergangenheit verbunden. Warum setzt der mächtige Pharao Echnaton alles daran, sie in seine Hände zu bekommen? Wird Anna es mithilfe der Katzengöttin Bastet schaffen, nach Hause zurückzukehren? Und was macht ausgerechnet Daniel, ihre erste große Liebe, an diesem Ort, in dieser Zeit?

     

     

    Leseprobe

    Die Ausstellung
    Dunkelheit. Schwärze. Überall. Atemraubend. Anna sah keinen Meter weit. Abgestandene Luft legte sich wie nasser Sand über die Nase, den Mund, erschwerte ihr das Atmen. Rasch hob und senkte sich ihr Brustkorb, jede Faser des Körpers gierte nach Sauerstoff, schien vor Ungeduld zerreißen zu wollen.
    Sie spürte die Blicke wie Nadelspitzen auf ihrer Haut und dann … diese Schritte. Schritte, die von den Mauern herniederhallten, die sie umringten.
    Sie blieb einen Herzschlag lang stehen, lauschte in die Finsternis. Kamen die Tritte näher? Nahm das Stöhnen an Lautstärke zu?
    Gehetzt sah sie zurück und erkannte doch nichts.
    Weiter! Du musst weiterlaufen, klang es hinter ihrer Stirn. Er holt dich. Er fängt dich. Du wirst niemals dieses Labyrinth verlassen, wenn er dich erreicht.
    Sie drückte die Hände gegen die Schläfen, bis die Stimme in ihrem Kopf verstummte. »Ruhig, Anna«, murmelte sie, »irgendwo muss es einen Ausgang geben. Irgendwo vor dir. Oder hinter dir.« Ihr Herz trommelte wild. Die Erkenntnis, dass sie nicht den Hauch einer Ahnung besaß, wo sie sich überhaupt befand, jagte ihr einen Schauder über den Rücken.
    Den Tränen nahe, streckte sie die Arme zu beiden Seiten aus. Ihre Hände berührten staubigen Stein. »Es muss einen Ausgang geben. Es gibt immer einen.« Sie konzentrierte sich auf ihren Puls, befahl ihm, langsamer zu werden. Erst, als er einen normalen Rhythmus annahm, schloss sie die Augen, versuchte sich auf Gehör und Gefühl zu verlassen und trat zwei Schritte nach vorn.
    Keine Mauer. Aber auch kein Luftzug. Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken.
    »Grrr …«
    Blindlings hastete sie durch die Gänge, eine gefühlte Ewigkeit, bog nach rechts ab, als sie auf dieser Seite keinen Widerstand spürte.
    Der Schmerz schoss wie ein Pfeil von der Stirn in die Füße. Einen Moment lang verspürte sie Übelkeit, als ob sie zu viele Süßigkeiten auf einmal gegessen hätte, und atmete tief durch.
    »Aua«, murmelte sie schluchzend, und tastete über eine Mauer. Sie war so oft den Weg entlanggelaufen, aber nie zuvor hatte er an dieser Stelle aufgehört. Es gab nur eine Sache, die sie wirklich wusste. Hinter ihr, irgendwo in den Tiefen der Schwärze, lauerte das Geschöpf, das nach ihr jagte.
    Von Neuem hallten seine Schreie durch das Labyrinth, als ob es ihre Gedanken las.
    »Grrr …« Dieses Mal schien es näher als zuvor.
    Zitternd fuhr sie mit den Fingern über den Felsen. Sie fanden keinen Ausweg, keine Lücke, durch die sie sich zwängen konnte.
    Außer Atem ließ sie sich gegen die Mauer sinken, starrte in die Dunkelheit. Sie presste die Zähne aufeinander, damit ihr Klappern sie nicht verriet. Ihre Haare stellten sich zu Berge.
    Sie lauschte. Schlürfende Schritte, unheilvolles Knurren. Lauter. Näher.
    Sie drückte sich gegen Stein und verbarg den Kopf zwischen ihren Knien. Ich seh dich nicht, also siehst du mich auch nicht. Ich seh dich nicht, also siehst …
    Eine Hand, wie von Elfenbein, blitzte in der Schwärze auf.
    Anna schrie.

     

    Anna brüllte noch immer. Ihre Kehle fühlte sich wie Sandpapier an, ihre Stimme wurde schwächer, doch sie konnte nicht aufhören.
    Ein lautes Knarzen übertönte sie.
    »Anna? Was ist los?«, rief jemand.
    Ohne Vorwarnung kam die Hand aus der Finsternis, bleich wie eine Totenhand. Sie keuchte. Das Ding kannte ihren Namen.
    Sie fuhr auf, hörte ihr Herz dumpf in ihren Ohren pochen, sah einen Schatten, der ihr seltsam vertraut war und verstummte. Zischend sog sie die Luft zwischen den Zähnen ein. »Mama? Was …? Wo bin ich?«
    Mama nahm sie in die Arme und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Anna, du hast schlecht geträumt. Ein Alb, mehr nicht.«
    Annas Augen füllten sich mit Tränen. Sie schniefte. »Es war kein Traum. Ich war dort. In dem dunklen Labyrinth. Die Mauern … die Sackgasse.« Ihre Stimme schwoll an, bis sie in Mamas Augen blickte. Darin erkannte sie ein Funkeln, das ihr nicht geheuer vorkam. Schmerz? Begründet in einer Ahnung, dass sie den Verstand verlor? Doch sie konnte nicht länger schweigen. »Es ging nicht mehr weiter. Dieses Mal jedoch …« Sie vergrub das Gesicht in der Ellenbeuge ihrer Mutter wie in Kindertagen, wenn sie sich gruselte. »Ich habe etwas erkannt.«
    Mama nahm die Hand von ihrem Rücken. Augenblicklich vermisste sie die tröstende Wärme und bereute, überhaupt den Mund geöffnet zu haben.
    »Was war das?« In Mamas Stimme schwang ein sorgenvoller Unterton.
    Sie sah auf. Hörte sie ein Vibrieren, ein Zittern? Wieder und wieder hallte der Satz wie ein Echo in ihrem Kopf nach, bis sie glaubte, zurück in dem Labyrinth zu sein. Gehörte das, was sie vernahm, an diesen schrecklichen Ort? Stellte Mama einen Teil dieses ewig wiederkehrenden Albtraumes dar?
    Anna schüttelte den Gedanken ab. Unsinn. Mama macht sich wirklich Sorgen um mich.
    »Anna?«
    Sie versuchte, zu lächeln. »Bitte entschuldige. Ich probiere, mich an die Einzelheiten zu erinnern. Vielleicht eine Klaue, Pranke … nein. Eine Hand, ja, eine Hand griff nach mir.«
    »Erzähl weiter.«
    In Mamas Gesicht regte sich nichts.
    »Bevor sie mich packte, bin ich aufgewacht.« Sie schluckte das Gefühl der Erleichterung hinunter. »O Mama, was bedeutet das alles? Wann hört es endlich auf?« Die Tränen rannen herab, trockneten und nur salzige Kristalle blieben auf ihrer Haut zurück.
    »Ich weiß es nicht, meine Süße. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es an der Zeit, Hilfe zu holen. Auf Dauer geht es so nicht wei…«
    »Hilfe? Willst du etwa sagen, dass ich verrückt bin?« Sie warf die Bettdecke zu Boden und sprang auf.
    »Beruhige dich, mein Liebes. Wenn du nicht willst …«
    »Ich will nicht. Ich bin nicht verrückt.«

    Der Ruf des Pharaos
    196 Seiten
    Softcover
    ISBN 996352415X
    € 10,99

    »Du warst wieder dort?« Claudia rollte den Lutscher zwischen ihren Hamsterbacken umher und ähnelte damit verblüffend einem Kleinkind.
    Ein schreiend komischer Anblick, doch Anna war nicht zum Lachen zumute. »Ja. Es ist unheimlich dort. Dunkel. Weißt du, dass ich, seitdem sich dieser Traum ständig wiederholt, Angst im Dunkeln habe?«
    »Nein. Aber verdenken kann man es dir nicht.«
    »Übrigens …« Sie zeigte auf den Lolli. »… bekommst du von dem da Karies.«
    »Egal.« Claudia schob die Nascherei weiter in den Mund hinein.
    Ein scheußliches Knacken wie von berstenden Knochen war zu hören, als Claudia ein Stück abbiss.
    Ein Schauder durchlief Annas Körper. Sie schmeckte bittere Galle und schluckte heftig. »Bitte hör damit auf«, flüsterte sie.
    »Ah, jetzt weiß ich es.« Claudias Miene verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Ich weiß, wo du Nacht für Nacht umherwanderst.«
    »So? Wo denn?« Gespannt wartete sie auf die Antwort. Claudia besaß seit eh und je die verrücktesten Ideen, und wenn die Geschichte nicht dermaßen gruslig wäre, hätte sie sich auf ihre Erklärungen mit Sicherheit gefreut.
    »Na, du triffst dich heimlich mit Daniel. Wenn auch nur in deinen Träumen, aber du triffst dich mit ihm.« Die Freundin, deren Haare jedem Feuerlöscher Konkurrenz machen konnten, versetzte ihr einen Stups in die Rippen und lachte.
    »Nicht so laut«, zischte Anna und sah unter den Wimpern zu dem blonden Jungen hinüber. Daniel war zwei Klassenstufen über ihnen. Sämtliche Mädchen der Schule begehrten ihn. Sie war ebenfalls heimlich in ihn verliebt. »Er steht doch da drüben.« Hitze stieg ihr in die Wangen. Rasch sah sie weg. Niemand sollte über ihre Gefühle im Bilde sein. Vor allem nicht Claudia.
    »Na und?« Claudia neigte den Kopf und setzte ihren berühmten Hundeblick auf, der bei ihr immer zog.
    Heute nicht. Heute wollte sie nicht lachen oder scherzen. Der Tag sollte nur rasch vergehen.
    »Er soll ruhig wissen, dass du ihn magst. Allein kommt er nie darauf. Wenn er es nicht erfährt, werdet ihr nie ein Paar. Also? Welche Rückschlüsse ziehen wir daraus?«
    »Dass du spinnst, meine liebe Claudia. Dass du spinnst.« In Gedanken lächelte sie zu ihm hinüber. Eigentlich stimmte es. Doch wenn sie nur daran dachte, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen, klebten ihre Füße am Boden und ihre Zunge nahm ein taubes Gefühl an. Blöderweise würde Daniel wohl nie von allein zu ihr kommen, geschweige denn, sie ansprechen. Sie seufzte.

    Sandra Rehschuh - Ruf des Pharaos - Backcover
    Sandra Rehschuh – Ruf des Pharaos

    »Liebeskummer, oder was?«, neckte die Freundin weiter.
    »Ach, was.« Jetzt kam der Zeitpunkt, an dem sie sich den klebrigen Boden zum ersten Mal herbeisehnte; sie könnte damit Claudia den Mund verschließen.
    »Sehnsüchte und seltsame, nächtliche Reisen. Ja, ja … Das muss Liebeskummer sein, meine Beste. Hihi.«
    »Wenn du das sagst?« Sie ließ resigniert die Schultern sinken. Claudia würde sie sicherlich bis zum Ende ihrer Tage mit ihren Sprüchen nerven. »Woher willst du eigentlich wissen, dass ich in ihn verschossen bin? Vielleicht bist du es ja selbst, und weil du dich nicht traust, Daniel anzusprechen, hackst du auf mir rum.«
    »Ach, Annalein.« Sie lachte. »Ich kenne dich. Deine Augen kleben ja förmlich an ihm.«
    »Das geht nicht«, brummte sie. »Dann müsste ich mir nämlich die Augäpfel herausreißen und sie mit Kleber an ihm festmachen.«
    Claudia klopfte ihr auf die Schulter. »Nur nicht den Mut verlieren. Jeder Topf findet seine Bratpfanne, sagt man doch so schön, oder?«
    »Jeder Topf findet seinen Deckel. Ein toller Spruch, nicht wahr? Irgendwie stimmt der bloß nicht. Zumindest trifft er bei mir überhaupt nicht zu. Ich bin schon immer ein deckelloser Topf und weit davon entfernt, dass sich daran etwas ändert. Manchmal kommt es mir vor, als müsste ich mein ganzes Leben allein bleiben. Da gibt es noch ein geniales Zitat. Genieß die Einsamkeit. O Mann, wer denkt sich diese tollen Lebensweisheiten eigentlich aus?« Sie kickte einen Kieselstein davon und sah ihm nach.
    »Anna, sei doch nicht frustriert. Du bist gerade vierzehn. Du hast genug Zeit, jemanden kennenzulernen.« Das Spöttische wich aus Claudias Stimme, sie blickte ungewohnt ernst.
    »Vielleicht stimmt das ja.« Aber das tröstet nicht darüber hinweg, dass ich Daniel möchte, und ihn wohl niemals bekommen werde.
    »He, ich habe eine Idee, Annalein«, Claudia warf den Rest ihres Lutschers fort. »Das bringt dich sicher auf andere Gedanken. Heute eröffnet die Ägyptenausstellung. Also die über den Kinderpharao. Tutancha … irgendwas. Was meinst du? Wollen wir uns die zusammen ansehen?« Sie sprang auf und wäre beinahe über die eigenen Füße gestolpert, hätte Anna sie nicht aufgefangen.
    »Ich weiß nicht. Meine Nacht war kurz, Claudia und überhaupt …«
    »Ach, komm schon«, sie zerrte an ihrem Ärmel, »es klingelt gleich. Also, du und ich auf Ägyptentour, meine verehrte Pharaonin.« Claudia kicherte und strich über Annas Haare. »Eigentlich könntest du wirklich als eine Pharaonin durchgehen«, bemerkte sie nachdenklich, »dein Haar ist in der richtigen Länge, das Schwarz stimmt. Dein Pony ist genauso gerade geschnitten wie der der Majestäten aus längst vergangenen Tagen. Und wenn ich dich richtig ansehe«, sie trat einen Schritt vor Anna und zwang sie zum Stehenbleiben, »erkenne ich sogar diese feinen mandelförmigen Augen an dir.«
    »Claudia?«, sie zog die Freundin weiter, »es gibt keine Pharaoninnen. Wenn, dann Königinnen. Davon abgesehen glaube ich, dass du jetzt völlig durchdrehst.«

     

     

    »Das macht vierzehn Euro.« Der Kartenverkäufer, dessen Gesicht sich unter einer Schicht Akne versteckte, beugte sich über die Theke und gab ihnen ihre Tickets.
    »Vierzehn Euro? Da geht ja mein ganzes Taschengeld flöten«, klagte Claudia empört.
    Am liebsten wäre Anna vor Scham im Boden versunken. Was der Typ jetzt wohl von ihnen denken mochte? Eigentlich konnte es ihr ja egal sein, aber peinlich war ihr die Sache schon. Was, wenn sie sich irgendwann einmal auf der Straße sahen? Erinnerte er sich an sie als die Freundin einer Unruhestifterin?
    Das Pickelgesicht lächelte.
    »Gehst du nicht auch bei uns in die Schule?« Claudia klimperte mit den Wimpern.
    »Kann sein«, murmelte er und widmete sich wieder einem Prospekt über die Ausstellung.
    »Ich glaube, ich habe dich bestimmt schon gesehen«, Claudia beugte sich zu ihm, »arbeitest du hier freiwillig?«
    Er zuckte die Schultern, sah nicht einmal auf.
    »Komm endlich. Lass ihn zufrieden«, sie zog an Claudias Shirt, »schließlich wolltest du mit mir in diese Ausstellung und nicht mit irgendwelchen Jungs flirten.«
    »Flirten?« Claudia erschrak, sah zum Ticketverkäufer, der sie jedoch keines Blickes würdigte. »Flirten? Bist du wahnsinnig? Sieh ihn dir mal richtig an. Rothaarig und mehr Pickel im Gesicht, als andere auf ihrem Hint… ähm … Na, du weißt schon.«
    Sie wandte sich von der Freundin ab und schüttelte den Kopf. Manchmal benahm sich Claudia wie ein Kindergartenkind. Niemand, der sie reden hörte, würde glauben, dass sie fünfzehn war.
    »Ich wollte doch nur, dass er uns die Preise niedriger macht«, rechtfertigte diese sich weiter.
    »Hat nicht geklappt.« Anna zerrte sie mit sich.
    »Danke, das merke ich.«
    »Denkst du mal daran, ob er das morgen in der Schule rumerzählt? Wenn er damit hausieren geht, dass du ihn bezirzen wolltest? Glaub mir, danach bist du das Gespött des Pausenhofes, nein, der ganzen Stadt.« Sie kicherte.
    »Erinner mich nicht daran.« Claudia schob einen samtenen Vorhang zur Seite, der wohl das Tor in die längst vergessene Welt darstellen sollte, und schlüpfte hindurch.
    »Kommst du?«, klang es gedämpft von der anderen Seite, »Anna?«
    Sie wollte nicht weitergehen. Etwas lauerte in den Räumen, das sie von ihrem Standpunkt aus nicht sah. Sie starrte den Vorhang an. Waren da nicht eben Stimmen gewesen? Leise, flüsternd wie von weit her. »Unsinn«, schalt sie sich. Sie befand sich in einer Ausstellung. Natürlich gab es hier Menschen, die miteinander sprachen. Besucher und keine Gespenster. Dennoch bemerkte sie einen Druck auf der Brust, der abklang und zunahm, als werfe jemand einen Volleyball immer und immer wieder dagegen.
    »Wo bleibst du denn? Anna?«
    Der Vorhang warf Wellen und schien einen Moment lang durchsichtig zu werden. Sie hielt den Atem an, betrachtete den Stoff, aber nichts geschah. Alles war, wie es sein sollte. Nur ein roter samtener Vorhang, der zwei Räume voneinander trennte. Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Mehr nicht. Sie schüttelte den Kopf über diese absurde Vorstellung, etwas anderes gesehen zu haben und wollte gerade der Freundin folgen, als sie jemanden hörte. Ja, komm, meine Königin. Komm zu mir.
    Sie blieb stehen. Der Stoff in ihrer Hand fühlte sich heiß und trocken an. Wie hypnotisiert starrte sie auf den Vorhang, der nun flatterte, als tobe dahinter ein Sturm. Hitze stieg in ihr auf, verbrannte ihre Wangen, versengte die Augenbrauen. Die Luft wandelte sich zu Feuer. Sie konnte nicht mehr atmen.
    Diese Stimme gehörte nicht Claudia. Nein, sie klang wie die eines Mannes. Brummend und irgendwie geschmeidig zugleich. Eine Stimme, die dem Knurren aus ihren Träumen ähnlich schien.
    »Anna?«
    Wie ein Mantel fiel die Wärme von ihr, kroch am Boden davon und zog sich in die Finsternis hinter dem Vorhang zurück. Einen Wimpernschlag lang hielt sie noch den Atem an, dann wirkte alles wie bei ihrem Eintritt in das Museum.
    Claudia rief nach ihr. Ohne Zweifel. Wer sonst sollte wissen, dass sie im Vorraum stand?
    Tagträume, es müssen Tagträume sein. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. »Doch, die gibt es«, korrigierte sie sich, aber wollte nicht daran denken.
    »Willkommen, sehr verehrte Besucher«, drang es aus einem Lautsprecher über ihnen, »tauchen Sie ein, in eine der faszinierendsten Epochen der ägyptischen Geschichte. Ein Pharao wird mit neun Jahren auf den Thron gehoben. Seine Regentschaft dauert von 1332 bis 1323 vor Christus. Gelenkt durch seinen Gottesvater Eje, beginnt Tutanchamun die Abwendung vom Atonkult. Zerstörte Tempel der alten Götter werden wieder aufgebaut und er heiratet seine Schwester Anchesenpaaton.«
    Anchesenpaaton? Anna horchte auf. Sie kannte diesen Namen, wusste aber nicht woher. »Anchesenpaaton.« Der Name umhüllte ihre Zunge mit einem Gefühl, als hätte sie eben gerade am Fell des Nachbarhundes geleckt.
    »Tutanchamun, ein Pharao, der jung starb. Das Geheimnis um sein Ableben bleibt ungelöst. Was ist Wahres an dem Fluch des Pharaos? Warum starben die Expeditionsmitglieder, die das Grab am 4. November 1922 entdeckten, frühzeitig? Tauchen Sie ein und wandeln Sie auf den Pfaden längst vergangener Zeiten.«
    Tränen füllten ihre Augen, schwer wie Blei waren ihre Beine. Etwas schien sie in die Knie zwingen zu wollen. Dieselbe Macht, die sie vor dem Vorhang erlebt hatte? Sie kämpfte gegen den Drang, sich auf den Boden zu werfen und wie ein Embryo zusammenzurollen. Sie musste hier raus. Schnellstmöglich. Wie sollte sie das ihrer Freundin beibringen? Sie erklärte sie mit Sicherheit für verrückt.
    »Brrr …«, Claudia schüttelte sich, »verstehst du auch nur ein Wort von dem, was der da erzählt?«
    »Ich glaube schon«, gab sie nach kurzem Zögern zu und schwor, dass alle Farbe aus ihrem Gesicht wich.
    »Geht es dir nicht gut?«

     

    »Ja, nein. Ach, ich weiß nicht. Eigentlich will ich nur nach Hause.« Sie versuchte zu lächeln und hoffte, dass es gelang.
    »Nö, nichts da. Wir haben unser ganzes Taschengeld ausgegeben, um hier reinzukommen. Da gehen wir doch nicht, ohne uns die Ausstellung anzusehen. So, so. Du verstehst also, was der Typ da quasselt?«, wechselte sie das Thema. »Bist du etwa eine kleine Streberin?«
    Sie brachte gute Noten nach Hause, ja, allerdings war sie alles andere als eine Streberin. Ihr fiel es leicht, zu lernen, und das wusste Claudia. Aber das Alte Ägypten? Nein, diese Epoche der Geschichte hatte sie bis heute für uninteressant gehalten und nie wirklich etwas darüber gelesen. Aus welchem Grund also kamen ihr diese Worte bekannt vor?
    »Anna? Träumst du?«
    Sie sah auf und lachte, obwohl ihr zum Heulen zumute war. »Keine Ahnung. Alles an diesem Ort kommt mir seltsam vertraut vor, als ob ich schon einmal hier gewesen wäre.«
    Etwas blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Gleißend hell, strahlender als die Sonne, zogen Bilder durch ihre Gedanken. Bilder, die sie nicht erkannte und die ihr dennoch einen Schauder über den Rücken jagten. Anna ahnte, dass das Gezeigte mit ihr im Zusammenhang stand, aber die Bilder nicht ihre Erinnerungen waren. Bevor sie erfasste, was sie sah, verschwand das Dargestellte und hinterließ nur Dunkelheit in ihrem Gedächtnis. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und fröstelnd verschränkte sie die Arme, dabei schien nur ein Augenblick vergangen zu sein.
    »Unsinn. Die Ausstellung ist doch heute erst eröffnet worden. Oder warst du etwa mit Daniel auf der Pressekonferenz?«
    Pressekonferenz? Wovon sprach Claudia? Dies musste ein Traum sein, oder sie wurde langsam verrückt. Du musst ruhig bleiben. Du wirst weder irre, noch bist du krank oder sonst was. Du bist nur übermüdet. Das ist alles. Zu viel gelernt. Das muss es sein, rief sie sich zur Ordnung, während sich ihre Knie in eine weiche Puddingmasse verwandelten. »Was sollte ich auf einer Pressekonferenz?«
    Claudia seufzte. »Du besitzt auch keine Fantasie, oder?«
    »Jedenfalls keine nur annähernd so lebhafte wie du.« Mit jedem Herzschlag zog sich die Erinnerung an diesen verfluchten Tagtraum weiter zurück. Sie sog die muffige Luft tief ein, überzeugt davon, dass alles nur in ihrer Vorstellung geschah. Wenn überhaupt.
    »Mensch, Anna. Daniel schreibt für die Schülerzeitung einen Artikel über diese Ausstellung.«
    Sie hob die Schultern etwas an, ließ sie aber sogleich wieder fallen. »Ja und?«
    Claudia gab ihr einen Klaps gegen die Stirn.
    Erschrocken trat sie einen Schritt zurück. »Spinnst du?«
    »Erde an Anna. Hallo? Ist da oben noch jemand? Denk doch mal nach. Er hält sich hier bestimmt öfter auf. Und daraus schließen wir?«
    »Wir? Nicht viel, denke ich. Eher du.« Es interessierte sie nicht, was Claudia dachte oder zu denken glaubte. Diese Bilder, diese Erinnerungen, entstammten sie der Wirklichkeit? Das war die einzige Frage, auf die sie eine Antwort wollte.
    »Dass wir ihn hier natürlich antreffen werden«, riss Claudia sie aus ihren Überlegungen.
    »He? Wen?«
    »Ach Anna, hörst du mir überhaupt zu? Ich male dir gerade ein romantisches Date aus und du bist mit deinen Gedanken ganz woanders.«
    »Ich höre.« Seufzend ergab sie sich in ihr Schicksal. Claudia würde nicht eher aufhören, zu reden, bis sie ihre Vorstellungen in allen Einzelheiten zu Ende erklärt hatte. »Also …«
    »Ist ein Bindewort.«
    »Nun lass mich doch mal. Diese Dunkelheit, die vielen Kostbarkeiten. Gibt es einen romantischeren Platz? Sei doch mal ehrlich.«
    »Mit Sicherheit. Neben einer Mumie möchte ich nämlich nicht das erste Mal geküsst werden.«
    Sie brachen in schallendes Gelächter aus.
    »Lass uns jetzt Ägypten erkunden«, sagte Claudia feierlich und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

     

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